Hamburg. Die Lebensmittelbuchkommission entscheidet, wie Lebensmittel bezeichnet werden dürfen – oft mit irreführenden Ergebnissen. foodwatch-Sprecherin Christiane Groß erklärt, was hinter einer Bezeichnung wie "Formfleisch-Schinken" steckt und wie Verbraucher sich wehren können.
YaaCool Bio: Frau Christiane Groß, die Lebensmittelbezeichnungen im Supermarkt sind für Verbraucher oft irreführend: Schinkenbrot muss zum Beispiel keineswegs Schinken enthalten, Fruchtkremfüllung kann ohne Früchte hergestellt werden. Wie kann es dazu kommen?
Christiane Groß, Sprecherin der gemeinnützigen Verbraucherschutzorganisation foodwatch: Was sich Verbraucher unter Schinkenbrot oder Fruchtkremfüllungen vorzustellen haben, legt die Lebensmittelbuchkommission fest, ein in der Öffentlichkeit weitgehend unbekanntes Gremium. Sie formuliert in "Leitsätzen" sogenannte "Verkehrsbezeichnungen", die dann im Deutschen Lebensmittelbuch zusammengefasst werden. Hier werden den Verbrauchern häufig irreführende Begriffe zugemutet. So dürfen zusammengeklebte Fleischfasern als "Formfleisch-Schinken" verkauft werden, und Schokopudding muss gerade mal ein Prozent Kakao enthalten. Die Mogelstrategien vieler Lebensmittelhersteller werden durch solche Definitionen erleichtert.
Wer steckt hinter der Lebensmittelbuchkommission? Welche Interessen werden dort vertreten?
Christiane Groß: In der Lebensmittelbuchkommission sitzen 32 Männer und Frauen, die vom Bundesernährungsministerium für fünf Jahre berufen werden. Vertreten sind dort Wirtschaftsverbände wie der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) – das ist der größte Lobbyverband der Lebensmittelindustrie – der Deutsche Fleischer Verband und der Bauernverband, aber auch die Einzelunternehmen Unilever und bofrost. Weitere Mitglieder sind Mitarbeiter von Lebensmittelüberwachungsbehörden und Universitäten. Ein Viertel der Kommissionsmitglieder wird von den staatlich finanzierten Verbraucherzentralen, vom Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften und der Stiftung Warentest entsandt.
Warum haben Verbraucher keinen Einblick in die Entscheidungsfindung der Lebensmittelbuchkommission?
Christiane Groß: Die Geschäftsordnung legt den 32 Mitgliedern der Lebensmittelkommission ausdrücklich eine "Verschwiegenheitspflicht" auf. Das halten wir für ein Unding: Verbraucher haben ein Recht darauf zu erfahren, wie die Entscheidungsfindung abläuft und welche Interessen von wem vertreten werden. Deshalb haben wir Ende 2007 auf Einsicht in die Sitzungsprotokolle geklagt.
Diese Klage wurde vom Verwaltungsgericht Köln im Februar 2010 abgelehnt. Mit welcher Begründung?
Christiane Groß: Das Verwaltungsgericht Köln hat sein Urteil damit begründet, dass "ohne die gebotene Vertraulichkeit die offene Meinungsbildung und neutrale Entscheidungsfindung beeinträchtigt" würden. Wir halten das für absolut nicht nachvollziehbar. Wenn eine sachliche Diskussion in der Lebensmittelbuchkommission nur möglich ist, wenn sie im Geheimen stattfindet, müssten mit derselben Argumentation ja auch die Beratungen und Abstimmungen im Deutschen Bundestag hinter verschlossenen Türen stattfinden. Es gibt gute Gründe dafür, dass das nicht so ist.
Wie geht es weiter?
Christiane Groß: Wir sind in Berufung gegangen, weil wir finden, dass Verbraucher ein Recht auf diese Informationen haben. Es kann doch nicht sein, dass ein "Schweigegelübde" in einer Satzung wichtiger ist als das Recht der Verbraucher auf Information.
Worauf können sich Verbraucher überhaupt noch verlassen? Was können sie tun, um im Supermarkt nicht auf irreführende Bezeichnungen hereinzufallen?
Christiane Groß: Wirklichen Schutz vor Irreführung gibt es leider nicht, auch wenn genau Hinschauen und Nachfragen natürlich nie verkehrt ist. Aber um sich rundum vor Täuschungen zu schützen, müssten Sie Lebensmittelchemiker sein und im Supermarkt eine Lupe und sämtliche Gesetzestexte dabei haben. Das große Problem ist, dass viele Werbelügen legal sind. Hier müssen sich die Regeln ändern – und ein Bewusstsein bei den Unternehmen entstehen, dass Täuschen sich nicht lohnt. Auf unserer Internetseite www.abgespeist.de enttarnen wir beispielsweise regelmäßig Werbelügen, tausende Verbraucher haben sich über diese Seite schon direkt bei den Herstellern beschwert – dieser Protest zeigt Wirkung.
Gibt es bestimmte Marken, Produkte oder Bezeichnungen, denen Verbraucher immer vertrauen können?
Christiane Groß: Bei Bioprodukten können sich Verbraucher in der Regel darauf verlassen, dass die Kriterien der EU-Öko-Verordnung, auf der das Siegel beruht, auch eingehalten werden. Man muss sich aber bewusst sein, dass auch hier die Regelungen nicht perfekt sind. Mit dem Bio-Siegel verkauft werden zum Beispiel auch Limonaden, bei denen der Geschmack nicht aus Früchten stammt, sondern mit Aromastoffen aus Papierabfällen und Schimmelpilzen erzeugt wird. Abgesehen vom deutschen Bio-Siegel gibt es leider kein staatliches Gütesiegel für Produkte, bei dem die Kriterien gesetzlich vorgeschrieben sind und die Einhaltung dieser Standards auch kontrolliert wird. Das neue "Ohne Gentechnik"-Siegel wird bisher ja kaum genutzt.
Welche Produkte sollten Verbraucher meiden?
Christiane Groß: Vorsicht ist immer dann geboten, wenn Hersteller eine besondere Qualität beschwören und dabei Begriffe benutzen wie "Gourmet", die nicht geschützt sind – hier handelt es sich häufig um leere Marketingphrasen.
Vielen Dank, Frau Groß, für das aufschlussreiche Interview!
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